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Auslandsinvestitionen in Lateinamerika 2022 auf historischem HochEin Indikator für die Neukonfiguration globaler Wertschöpfungsketten ?

Gegenüber Euro wie Dollar stabil: Die brasilianische Währung Real (Foto: Joel Santana / Pixabay)

 

4. August 2023

von Dr. Georg Dufner

Im vergangenen Jahr erreichten die ausländischen Direktinvestitionen (Foreign Direct Investment, FDI) in Lateinamerika und der Karibik – im Gegensatz zum Rest der Welt – ein Allzeithoch: 225 Milliarden US-Dollar, und damit 55 % mehr als 2021.

Das berichtete die UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (CEPAL) im Juli. Selbst wenn dieser Trend sich 2023 nicht fortsetzen sollte, kann er doch als Indikator für die Neukonfiguration globaler Wertschöpfungsketten im Zeichen des „de-risking“ gesehen werden.

Historisches Hoch der Auslandsinvestitionen

Der aus früheren Jahrzehnten bekannte „flight to quality“, also der Abzug von Geldern von riskanten Ländern (wie Lateinamerika) in weniger riskante (USA, EU), wie er üblicherweise bei Zinserhöhungen der US-Notenbank auftritt, blieb 2022 trotz der Zinsschritte der Fed aus. Stattdessen überraschte ein Mittelzufluss, der im krassen Gegensatz zum weltweiten Trend ( – 12 % ) steht. Brasilien, Mexiko, Kolumbien und Chile haben am meisten davon profitiert, aber auch Argentinien, obwohl die argentinische Wirtschaft seit Jahren von schweren, oft hausgemachten Krisen gebeutelt ist. Die 224,579 Milliarden US-Dollar, die im Jahr 2022 nach Lateinamerika und in die Karibik flossen, entsprechen etwa dem BIP von Peru, der sechstgrößten Volkswirtschaft der Region.

Die Vereinigten Staaten (38 % des Gesamtvolumens) und die Europäische Union (17 %, ohne die Niederlande und Luxemburg) waren die wichtigsten Investoren in der Region. Das FDI aus den Ländern Lateinamerikas und der Karibik verzeichnete einen deutlichen Anstieg von 9 % auf 14 % des Gesamtvolumens.

Wie bereits in unserer Analyse zum Krieg in der Ukraine beschrieben, profitieren sowohl die Rohstoff- als auch die Agrar- und Ernährungsindustrie von den Erschütterungen, die Russlands Angriffskrieg weltweit erzeugt hat. Aufgrund der Lieferengpässe bei Düngemitteln und Getreide wurde in diesen Bereichen verstärkt investiert. Öl, Gas und Mineralien sind weitere Sektoren, die vom Wunsch der Nordamerikaner und Europäer profitieren, ihre Lieferanten und Investments zu diversifizieren.

Neue Muster der Direktinvestitionen

Ökonomen haben darauf hingewiesen, dass viele Länder der Region der US-Zinserhöhung voraus waren und sich ihre Volkswirtschaften zu diesem Zeitpunkt in einer guten Position befanden, sodass sie den damit verbundenen Schock verkraften konnten. Auch deshalb fand kein Kapitalabfluss aus dem Subkontinent statt. Das hohe Zinsniveau in Ländern wie Mexiko oder Brasilien hält außerdem die lokalen Währungen relativ stark. Sollte die US-Notenbank die Zinsen 2024 erwartbar senken, würde sich die Attraktivität Lateinamerikas weiter erhöhen.

Nach den schwierigen Coronajahren verließen die Unternehmensgewinne internationaler Unternehmen 2022 Lateinamerika nicht in demselben Maße wie vormals üblich, sondern verblieben vielfach in den Tochterunternehmen der Region. „Nearshoring“ seitens der USA und EU von China nach Lateinamerika findet ebenfalls statt, wovon unter anderem Mexiko und Kolumbien profitierten. Kolumbiens seit Jahrzehnten erstmals dezidiert linke Regierung wurde nicht zum Investorenschreck, weshalb das Land von Nachholeffekten und höheren FDIs profitierte.

Brasilien, Mexiko, Chile, Kolumbien und ein Überraschungskandidat

Mexiko konnte 2022 17 % der lateinamerikanischen Auslandsinvestitionen für sich verbuchen. Für die mexikanische Automobilindustrie war die Ankündigung von Tesla wichtig, eine neue „Gigafactory“ im Bundesstaat Nuevo León bauen zu wollen. Diese Fertigungsstätte nahe Monterrey wird bis zu 5 Milliarden US-Dollar an Investitionen generieren und ca. 35.000 direkte und indirekte Jobs schaffen. Nuevo León hat sich über Jahre hinweg konsequent zum Automobil-Cluster entwickelt. Wenn das Tesla-Werk fertiggestellt ist, wird es das erste des Unternehmens außerhalb der Vereinigten Staaten, Deutschlands und Chinas sein.

Der Löwenanteil (41 %) der gesamten ausländischen Direktinvestitionen in der Region floss 2022 nach Brasilien, das damit einen Anstieg der ausländischen Direktinvestitionen um 97 % verzeichnete. Die Gelder wurden hauptsächlich in den Dienstleistungssektor investiert, gefolgt von der verarbeitenden Industrie und dem Rohstoffsektor.

Sowohl in Chile (9 % der ausländischen Direktinvestitionen in Lateinamerika 2022) als auch in Kolumbien (8 %) spielte die Zurückhaltung nach Wahlsiegen der Linken 2021 eine Rolle für die positive Entwicklung 2022. Nachdem sich die Präsidenten Boric und Petro als wirtschaftliche Pragmatiker herausgestellt hatten, hellte sich das Bild deutlich auf. Chile konnte 2022 die höchsten FDIs seit 2014 verzeichnen, Kolumbien den höchsten Wert seit 2005.

Eher überraschend erscheint Argentinien (7 % des lateinamerikanischen FDIs 2022) auf der Liste beliebter Investitionsziele in Lateinamerika. Analysten betonen, dass risikobereite Anleger sich im derzeitigen Kontext der anhaltenden Wirtschaftskrise sehr günstig in Vermögenswerte am La Plata einkaufen können. Strenge Maßnahmen gegen Kapitalabflüsse begünstigten Kreditvergaben zwischen Unternehmen und die Reinvestition von Gewinnen. Profitieren konnten von diesen Faktoren u.a. der Lithiumsektor, unkonventionelle Kohlenwasserstoffe (wie Teersande, Schiefergas, Ölschiefer) und der IT-Sektor.

De-Risking langfristig zu Lateinamerikas Gunsten?

Dieser außergewöhnliche Trend wird sich 2023 wohl nicht wiederholen, aber die CEPAL ist der Ansicht, dass sich für Lateinamerika in einer Zeit der Neukonfiguration globaler Wertschöpfungsketten und der geografischen Verlagerung von Produktionen neue Möglichkeiten ergeben werden.