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Deutschlands neue Liebe für LateinamerikaWas die Regierungsbesuche auf dem Subkontinent bedeuten und was davon zu erwarten ist – ein Kommentar.

Wirtschaftsminister Habeck zu Besuch beim brasilianischen Minister für Bergbau und Energie, Alexandre Silveira (Foto: Fabio Rodrigues-Pozzebom / Agência Brasil)

 

13. März 2023

von Dr. Georg Dufner

Lateinamerika und vor allem Brasilien können sich derzeit kaum deutscher Zuneigungsbekundungen erwehren. Zuerst besuchte Bundespräsident Steinmeier Brasilia, dann kam Kanzler Scholz mit Ministerin Schulze in die ABC-Staaten, Ministerin Lemke im Schlepptau und in den letzten Tagen die Kabinettsmitglieder Habeck und Özdemir.

Die Bundesregierung will angesichts der notwendigen Zeitenwende dringend Rohstoffe, grünen Wasserstoff, „grüne Wertschöpfungsketten“ (Habeck), Agrarprodukte, Wald- und Klimaschutz und ja, auch mehr politische Nähe. Insbesondere in Brasilien wird dafür der neue, alte Präsident Luiz Inácio „Lula“ da Silva umschwärmt.

Freihandel

Es stellen sich aber Fragen, zunächst: Freihandel – wie dringend und unter welchen Prämissen will ihn die Bundesregierung wirklich? Zweifel sind angebracht, ob die Ampel in ihrer vollen Breite wirklich Freihandel mit Lateinamerika möchte, Minister Özdemir muss wohl erst noch davon überzeugt werden, europäische Märkte für lateinamerikanische Agrarprodukte zu öffnen. Habeck sagt: „Es wäre großartig, wenn Themen wie Klima- und Regenwaldschutz und Nachhaltigkeit integraler Bestandteil des Abkommens werden.“ Das allein sind schon hohe Hürden. Hinzu kommt: Widerstand gegen einen für Brasilien und den MECOSUR akzeptablen Freihandel ist in Deutschland nicht nur von der grünen und roten Basis, sondern auch von Seiten der Wutbürger aus dem Hufeisen-Spektrum (siehe TTIP) und diverser Lobbygruppen (Landwirtschaft, BioFuel-Gegner) zu erwarten. Wie freihandels-freundlich die französische Agrarlobby ist, wissen wir. In Lateinamerika will man mehrheitlich den Freihandel, doch die Zögerlichkeit der Europäer und ihr Rosinenpicken sorgen – seien wir ehrlich: seit Jahrzehnten – für Befremden.

Die deutschen Gegner des Freihandels geben oft vor, ihnen liege das Einhalten gemeinsamer Standards am Herzen, dass die Lateinamerikaner dies aber – zu Recht oder zu Unrecht – nicht leisten könnten. An dieser Stelle kolonialistischen Paternalismus, blanken Eigennutz oder echten Freihandels-Idealismus zu konstatieren ist überflüssig. Der Eindruck auf lateinamerikanischer Seite bleibt: Europa kennt uns nicht und nimmt uns nicht ernst. Angesichts der Avancen insbesondere Chinas gewinnt seit Jahren eine Haltung immer mehr Anhänger, welche die vielbeschworene kulturelle Nähe zwischen Europa und Lateinamerika sukzessive unterhöhlt. Die Gefahr der Eingliederung Brasiliens und anderer Staaten der Region in einen antiwestlichen Handelsblock ist real, auch aufgrund jahrelanger massiver medialer Initiativen aus Russland, China und ja, selbst dem Iran. Diese Staaten sind keine natürlichen Partner, die Zusammenarbeit mit ihnen ist auch Ausdruck der Abwesenheit des eigentlich überwiegend wohl gelittenen Westens in Lateinamerika.

Man muss nicht die gestrige Amazonas-Episode der Minister Habeck und Özdemir kommentieren um zu dem Schluss zu kommen:  Auffällig ist die in Deutschland im Allgemeinen und auch von dieser Bundesregierung im Speziellen wenig genutzte Regionalexpertise, die gerne durch politische Sympathie, gewürzt mit einer Prise Lateinamerika-Romantik substituiert wird. Bezogen auf Brasilien werden Fehleinschätzungen deutlich. Der Politiker Lula ist sich seiner eigenen innenpolitischen Schwachpunkte natürlich vollauf bewusst. Brasilien hat mit einem – zumindest in der Stoßrichtung – mit den USA vergleichbaren Problem einer gespaltenen Gesellschaft zu kämpfen. Lulas Position ist nicht nur deshalb angreifbar. Seine in Deutschland zu Recht viel gelobten Ankündigungen, die Indigenen und ihre amazonischen Lebensräume zu schützen sind deshalb vorerst symbolisch. Was aber passieren wird, wenn pressure-groups gegen indigene Anliegen Stimmung machen, ist völlig offen. Anstrengend wird die neue Partnerschaft dann werden, wenn klar wird, dass Lateinamerika beispielsweise seine Rohstoffe weiter offensiv ausbeuten möchte, Zugang zu europäischen Märkten fordert und wenn auch Freunde Europas wie Lula Probleme mit unseren Maßstäben an Rechtstaatlichkeit, Ämterpatronage und Korruptionsbekämpfung zeigen werden. Allgegenwärtige Zwänge und realwirtschaftliche Widersprüche werden in Deutschland gerne ausgeblendet, in Lateinamerika werden sie angenommen und heftig öffentlich debattiert.

Bilaterale Beziehungen

Vermeidbare Überraschung nach Scholz‘ Stippvisite in Brasilia: Auch in der internationalen Politik pflegen Lateinamerika und Brasilien traditionell eine grosso modo distanzierte Haltung zu scheinbar weit wegliegenden Konflikten, was selbst in den Zeiten beider Weltkriege nicht oder nur zögernd aufgegeben wurde. Iranische Kriegsschiffe vor der Copacabana bedeuten dennoch keine Übernahme iranischer Positionen, sondern dienen dazu, der Welt die Unabhängigkeit Lateinamerikas zu demonstrieren, was gegebenenfalls auch zur Verbesserung der Verhandlungspositionen genutzt wird. Gerade hat Südafrika mit gemeinsamen Flottenmanövern mit Russland und China vorgemacht, wie man den Westen lustvoll provozieren kann. So weit ist Lateinamerika – von den castrochavistischen Staaten abgesehen – noch nicht. Aber selbst in konservativ regierten Ländern ist die Westbindung Lateinamerikas kein Selbstläufer, wie die Verhandlungen Uruguays mit der VR China um ein bilaterales Handelsabkommen zeigen. Sollte die von Lula angekündigte Modernisierung des Mercosur scheitern und das Abkommen mit der EU weiter nicht zustande kommen, werden bilaterale Abkommen nach dem chilenischen Modell in Lateinamerika weiter zu- und die Bedeutung des Mercosur weiter abnehmen.

Doppelte Standards, auch im Diskurs, werden durch die Entscheider, Medien und Öffentlichkeiten Lateinamerikas sofort aufgedeckt und lösen – trotz tiefer Sympathien für Europa und manchmal verdeckter Bewunderung für Nordamerika – wieder und wieder allergische Reaktionen aus. Um im Beispiel der jüngsten deutschen Initiativen zu bleiben: Kohle aus Kolumbien einkaufen, in der EU aber den Bergbau weitgehend verhindern; Ratschläge deutscher Minister, wie klimafreundliche Landwirtschaft auszusehen habe, bevor man zum Freihandel übergehen könne; allgemein: Unkenntnis über die spezifischen sozialen und wirtschaftlichen Notwendigkeiten in Lateinamerika.

Fazit

Kurzgefasst: Der Subkontinent hat lange mit freundlicher Zurückhaltung auf Deutschland gewartet. Trotz freundlicher Worte wird man der Bundesregierung nun nicht sofort in die Arme fallen. Dass der Enthusiasmus derzeit ungleich verteilt ist kann man gut am Medienecho ablesen: 2003 fragte Lula mit Blick auf Engagements in Brasilien: Wo sind die Deutschen? 20 Jahre später scheint man gewillt, die Möglichkeiten Lateinamerikas besser zu nutzen. Wenn die wirtschaftlichen und politischen Beziehungen nach Jahrzehnten ungenutzter Potenziale eine höhere Stufe erreichen sollen, braucht es aber langfristige Bemühungen über politische Sympathien und Einzelprojekte hinaus, ehrliche Kommunikation, Regionalkenntnis und für Lateinamerika attraktive Angebote ohne doppelte Standards und Bevormundung, und sei sie auch mit noch so guten Vorsätzen gespickt. Vielleicht sollte Berlin es daher erst einmal mit einer Vernunftbeziehung versuchen.